Vortrag von Professor (Gast) Albrecht Goeschel, Staatliche Universität Rostov zur Arbeitstagung Gesundheitliche Versorgung in Ländlichen Regionen Diakonisches Werk der EKD e.V. Berlin, 11.05.2010
1. Ländliche Räume, Gesundheitswesen und das Geschäftsmodell Deutschland
Regionalwirtschafliche Perspektiven für das Gesundheitswesen in Ländlichen Räumen können zutreffend nur dann benannt werden, wenn einerseits die Rolle der Ländlichen Räume im Rahmen der
Gesamtwirtschaftsentwicklung in Deutschland zum Ausgangspunkt gewählt wird und wenn andererseits die Entwicklungstendenzen des Gesundheitswesens selbst in seiner Doppelgestalt als Daseinsvorsorgebereich und als Wirtschaftszweig in die Betrachtung einbezogen werden.
1.1 Ländliche Räume als Wachstumsreserve mit familienergänzender Gesundheitsversorgung
In den ersten etwa zwei Jahrzehnten nach dem Kriegsende waren die Ländlichen Räume in Westdeutschland zunächst Auffangraum für Fluchtfamilien und Fluchtunternehmen. Nach einer Phase der Stabilisierung waren die Ländlichen Räume dann Ansiedlungsräume für die Erschließung der lohngünstigen und arbeitswilligen Landbevölkerung durch Zweigwerke. Auch wurden die Ländlichen Räume zu wichtigen Absatzmärkten für die Produkte der Industriezentren. Sie waren ein entscheidender Faktor eines durch Inlandskaufkraft getragenen Wirtschaftswachstums.
Die in diesen Räumen noch Jahrzehnte später persistierenden Lebensverhältnisse mit der Ernährer-Ehemannfamilie als Kern und einer noch ausgeprägt ständischen Gesellschaftsstruktur benötigten nur eine abbildende und ergänzende Daseinsvorsorge beispielhaft dargestellt durch das dreigliedrige Schulsystem einerseits, Hausarzt, Hebamme, Apotheke und Ortskrankenhaus andererseits.
Wenn man Kartografien noch aus den 1970er oder 1980er Jahren betrachtet, die die räumlichen Unterschiede in den Verheiratetenanteilen bzw. den Ärztedichten zeigen, dann sind dort die Ärztedichten besonders hoch, wo die Verheiratetenanteile besonders niedrig sind: In den wirtschaftsstarken, industriell-tertiären Ballungsräumen des Nordens, Westens und Südens Deutschlands und in privilegierten Ländlichen Räumen wie dem Schwarzwald und Oberbayern. In den typischen Ländlichen Räumen mit ihren hohen Verheiratetenanteilen dagegen „genügten“ jahrzehntelang familienergänzende Gesundheitsinfrastrukturen geringer Ausstattungsdichte wie eben im Falle der Arztpraxen. Dies galt abgeschwächt auch für die Krankenhausbettendichte, die bevorzugt in den Ballungszentren hohe Werte erreichte.
1.2 Ländliche Räume als „Spaltprodukte“ mit Wellnesswirtschaft oder Ärzteerosion
Sehr viel anders als in den ersten zwei Jahrzehnten nach Kriegsende stellen sich heute, mitten in der größten und weltweiten Wirtschaftskrise seit den 1990er Jahren die Ländlichen Räume im Wirtschaftsgeschehen in Deutschland dar.
Nach dem Ende einer von der Mitte der 1960er Jahre bis zum Beginn der 1980er Jahre reichende Phase der Globalsteuerung der Wirtschaft, der Expansion der Daseinsvorsorge und der Strukturverbesserung durch Bildung und Forschung, mithin nach einer Phase der Stimulierung des Wirtschafswachstums durch öffentliche Investitionen und öffentlichen Konsum folgte eine jahrzehntelange Phase der stufenweisen Absenkung der Lohneinkommen und der Lohnersatzeinkommen und –leistungen, d.h. der Schwächung der Inlandsnachfrage zugunsten einer immer stärkeren Orientierung vor allem des produzierenden Gewerbes und dort einiger Branchen und führender Großunternehmen auf den Export.
Hiermit verbunden war eine strukturelle Schwächung, aber auch eine gewollte Verringerung der Staatseinnahmen bei gleichzeitig seit der Wiedervereinigung enorm gestiegenem Bedarf an Transferleistungen, insbesondere an Lohnersatzeinkommen und –leistungen. Im Ergebnis führte dies vor allem, aber nicht nur zu einem ökonomischen und dann demografischen Zurückbleiben und beschleunigten Zurückfallen weiter Teile der Ländlichen Räume in den östlichen Bundesländern, aber bspw. auch in Nord-und Ostbayern. Mit der stetigen Steigerung der Exportüberschüsse durch jahrzehntelange Lohnzurückhaltung verbunden war eine voranschreitende Ungleichverteilung der Einkommen und Vermögen. Über Jahrzehnte ablaufende innerdeutsche Wanderungsprozesse begünstigten dabei eine räumliche Konzentration von Besserverdienenden, Hocheinkommen und Vermögen in privilegierten Ländlichen Räumen am Alpenrand einerseits und an Teilen der Ostseeküste andererseits. Während die depravierten Ländlichen Räume ihre wirtschaftliche Grundlage vor allem in Transferzahlungen und -leistungen aller Art haben, entwickelt sich in den privilegierten Ländlichen Räumen eine Hybridökonomie, die von Finanzwirtschaft, Hightech-und Prestigeproduktion für den Export und Premiumwellness geprägt ist.
Gleichzeitig ist in beiden Kontrasttypen Ländlicher Räume der gesellschaftliche Kern, die traditionelle Ernährer-Ehemannfamilie im Abbau und Umbau begriffen: Insbesondere durch die Abwanderung der jüngeren Frauen aus den Ländlichen Räumen des Osten Deutschlands verliert die Lebensform Familie ihre Grundlage und es bleiben wie in anderen sozialen Erosionsgebieten Europas vorrangig Alte und Alleinstehende zurück. In den privilegierten Ländlichen Räumen Süddeutschlands, aber auch der Ostseeküste mit ihrem hohen Anteil von Besserverdienenden, Hocheinkommen und Vermögen sind „Familien“ in anderer Weise im Abbau und Umbau: Von der Schicksalsgemeinschaft zur Konsumgemeinschaft.
Für die Gesundheitsversorgung hat dies weitreichende Folgen: In den erodierenden Ländlichen Räumen bräuchte die Gesundheitsversorgung einen breiten Ausbau ergänzender und begleitender sozialer Dienste zusätzlich zu den Berufen und Einrichtungen der Gesundheitsversorgung im engeren Sinne. Tatsächlich findet das Gegenteil statt: Auch aus Gründen der schwierigen Einkommenslage in den Ländlichen Räumen der neuen Bundesländer wird dort bspw. die Pflegeversorgung bevorzugt durch die Privathaushalte per Geldleistung selbst erbracht und ist die teilweise durch die vorherige Bevölkerungsabwanderung statistisch noch günstige Ärztedichte durch eine rasante Alterung der Praxisinhaber bzw. durch Besetzungsprobleme bei Krankenhausärzten bedroht. In den privilegierten Ländlichen Räumen hingegen hat sich zu der schon seit Jahren überdurchschnittlich hohen Ärzte-, insbesondere Fachärzte-Dichte vor allem im rehastationären Bereich eine breite zusätzliche Wellnesswirtschaft etabliert.
Durch die Einführung des Zentralen Gesundheitsfonds mit seiner Abschöpfung der Lohneinkommen mit einem verbrauchssteuerähnlichen Einheitsbeitrag in allen Teilräumen bei gleichzeitig extrem unterschiedlichem Rückfluß der Beitragsmittel in die Teilräume in Abhängigkeit von der sehr ungleichen Ausstattung der Räume mit Gesundheitsanbietern werden diese Disparitäten weiter verschärft. Zusätzlich wird die in das Grundgesetz eingefügte Schuldenbremse mit ihrer Deckelung der gesamten Daseinsvorsorge auf der Ebene der Länder die räumlichen Disparitäten in der Gesundheitsversorgung noch zusätzlich verstärken.
In der Tendenz droht die Gesundheitsversorgung in den erodierenden Ländlichen Räumen zu einer Unterversorgungssituation zu wechseln, von der nur noch schwache Impulse für die Regionalwirtschaft ausgehen. In den privilegierten Räumen wird es wegen der Entwicklung einer dynamisch wachsenden zunehmend privat-kommerziellen Gesundheits- und Pflegewirtschaft als Wirtschaftssektor zu Tendenzen von Fehl-und Überversorgung kommen.
2. Sozial-und Regionalepidemiologie, Reformpolitik und Gesundheitsversorgung in den Ländlichen Räumen
Neben den als Kontrasttypen beschriebenen erodierenden Ländlichen Räumen bzw. prosperierenden Ländlichen Räumen gibt es selbstverständlich etwa in weiten Teilen Niedersachsens oder auch Nordrhein-Westfalens und des Südteils Deutschlands, aber auch in einigen der neuen Bundesländer durchaus stabile Ländliche Räume mit ausgewogenen Lebens-, Arbeits-und Versorgungsverhältnissen. Auch für diese Ländlichen Räume, aber insbesondere für die zuvor beschriebenen Kontrasttypen gelten einige Grundtendenzen im gesellschaftlichen Funktionsbereich „Gesundheit“, die sich in den verschiedenen Typen Ländlicher Räume sehr unterschiedlich auswirken werden.
2.1 Individualisierung und Biografisierung von Gesundheitslagen und Erkrankungsepisoden
In der Entwicklung kapitalistischer Arbeitsgesellschaften auf der Basis von individuellem Arbeitsvermögen haben sich deutlich strukturierte Normal-Biographien mit den damit verbundenen Biographie-Krisen herausgebildet. Die Sozialepidemiologie stellt in ihren fortgeschrittenen Ansätzen vor allem zwischen solchen Lebenskrisen und bestimmten Erkrankungsmustern Verbindungen her und definiert von daher einen auf Lebenslagen und Erkrankungsarten bezogenen, nicht jedoch vorrangig auf Fachgebiete bezogenen Bedarf an Gesundheitsversorgung fest. Typische Beispiele sind die bei Männern in Trennung und Scheidung gehäuften psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, die bei defizitären Arbeitsverhältnissen gehäuften kardiologischen Erkrankungen, die Erkrankungsbilder bei alleinerziehenden Müttern oder die bei Kindern aus Armutsfamilien gehäuften Erkrankungen.
2.2 Unterversorgte Bevölkerungsgruppen: Männer, Kinder und Migranten
Die vom Sachverständigenrat für die Entwicklung im Gesundheitswesen etablierten Kriterien der Über-, Fehl- und Unterversorgung treffen mit dem Kriterium der Unterversorgung, bezogen auf die selbst durchaus befragenswerten Leistungen des bestehenden Systems der Gesundheitsversorgung, auf drei Bevölkerungsgruppen bzw. Lebenslagen besonders zu: Auf die Männerbevölkerung, auf die Kinderbevölkerung und auf die Migrationsbevölkerung. Dabei gilt dies stets für die schlechter situierten Teile innerhalb dieser Gruppen und eher nicht für die gutsituierten Teile innerhalb dieser Gruppen.
2.2.1 Gesundheits-und Pflegebedarf bei der Männerbevölkerung
Gemessen an unterschiedlichen Vergleichsgruppen haben insbesondere Männer mit niedrigererem Einkommen in den Ländlichen Räumen der neuen Bundesländer eine besonders niedrige Lebenserwartung. Aber auch bei einfachem Vergleich mit der Frauenbevölkerung bleibt die Lebenserwartung der Männerbevölkerung in Deutschland im Schnitt etwa 6-7 Jahre zurück.Gleichzeitig werden gemessen an Pro-Kopf-Beträgen und Aufwendungen für Leistungen des gegebenen Gesundheitssystems für die Männerbevölkerung im Vergleich zur Frauenbevölkerung im ambulanten Bereich ca. 6-7 Mrd. EUR und im stationären Bereich ebenfalls ca. 6-7 Mrd. EUR weniger aufgewendet.
Nachdem derzeit verstärkt die kriegsverschonten Jahrgänge der Männer ins Krankenhausalter kommen und wegen der vorrangigen Männerprägung der jetzt ebenfalls ins Krankenhausalter kommenden Migrationsbevölkerung wird, ausgehend vom Jahre 1998 die Zahl der männlichen Krankenhausfälle im Jahre 2020 um ca. 80 Prozent gestiegen sein. Bei den weiblichen Krankenhausfällen liegt diese Steigerung nur bei rund 40 Prozent. Es kommt derzeit also zu einer schleichend Maskulinisierung der Krankenhauspatientenschaft insbesondere durch Rückgang der Geburtshilfefälle bei der weiblichen Patientenschaft. Diese Maskulinisierung setzt sich in der Pflegeversorgung fort. Hierauf sind weder die Krankenhaus- noch die Pflegeversorgung eingestellt.
2.2.2 Gesundheitsdefizite bei den Armutskindern
Der Anteil von Personen mit Armutsrisiko oder unter Armutsbedingungen ist bei der Kinderbevölkerung in Deutschland überproportional hoch. Nachdem schon gemessen an den Gesundheitsaufwendungen für die Kinderbevölkerung im Vergleich zu den Gesundheitsaufwendungen für die Erwachsenenbevölkerung die Kinderbevölkerung für die Gesundheitsbranche eigentlich keine besonders interessante Kundschaft ist, sind die Millionen Kinder in Hartz IV-Bedarfsgemeinschaften, gemessen an den für sie im Regelsatz vorgesehenen Ausgaben für Gesundheitsgüter und –leistungen ausserhalb der Gesetzlichen und Privaten Krankenversicherung völlig unbedeutend.
Dem entspricht, dass zwar vor allem männliche Kinder aus sozial schwachen Familien eine erhöhte Häufigkeit bei psychischen Störungen zeigen, gleichzeitig aber in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten Kinderkrankenbetten verglichen mit anderen Fachbetten der Krankenhausversorgung in Bezug auf die jeweilige alterspezifische Referenzbevölkerung weit überproportional abgebaut worden sind. Zusätzlich liegt in der Verteilung der Kinderkrankenbetten eine ausgeprägte räumliche Fehlverteilung vor. So konzentrieren sich die Kinderkrankenbetten auf die Kreisfreien Städte, deren Kinderdichte vergleichsweise niedrig ist, während die Landkreise mit ihrer vergleichsweise hohen Kinderdichte eine viel schwächere Ausstattung mit Kinderkrankenbetten zeigen.Dies gilt interessanterweise vor allem für weite Teile Bayerns.
Größere Untersuchungen zur Gesundheitslage der Kinderbevölkerung auf Bundesebene wurden vor einigen Jahren erstmals überhaupt vorgelegt.
2.2.3 Gesundheitsdefizite bei der Migrationsbevölkerung
Mittlerweile ist die Gesundheitslage und Gesundheitsversorgung der Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund wesentlich besser untersucht als noch vor zwei bis drei Jahrzehnten. Allgemein gilt eine je nach Alters-, Geschlechts-und Staatsangehörigkeitsgruppe variierende erhöhte gesundheitliche Risikobelastung der Migrationsbevölkerung. Demgegenüber bleibt die Nutzung aller und nicht nur einzelner Leistungsbereiche der Gesundheitsversorgung, etwa im Bereich der Prävention oder der Rehabilitation durch die Migrationsbevölkerung erkennbar zurück. Vor allem stellen sich die Gesundheitsanbieter noch immer nur zögerlich auf die in manchen Regionen oder Stadtgebieten anteilsstarke Migrationsbevölkerung ein. Dazu kontrastiert das Bemühen von Krankenhäusern einkommensstarke Privatpatienten aus Nicht-EU-Ländern zu akquirieren.
2.3 Pfadabweichungen bei der Reform der Krankenhausversorgung
Die mittlerweile mehrere Jahrzehnte anhaltenden Reformen der Krankenhausversorgung werden immer noch mit dem Ziel einer bedarfsgerechten, leistungsfähigen und wirtschaftlichen Krankenhausversorgung der Bevölkerung, mit einseitiger Betonung der Wirtschaftlichkeit legitimiert.
Entscheidende Weichenstellungen wie der Aufbau der Krankenhausbedarfs-und Investitionsplanung zunächst in den 1970er Jahren in Westdeutschland und nach 1990 in Ostdeutschland sind dabei einseitig auf der Basis der ärztlich-medizinischen Fachgebiete erfolgt. Ebenso wurde die Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf preisähnliche Fallpauschalen in den 2000er Jahren ebenfalls einseitig auf die ärztlich-medizinische Leistungskomponente ausgerichtet.
Im Ergebnis hat dies dazu geführt, dass durch die immer stärkere Beschleunigung der Behandlung der somatischen Fälle einerseits und durch das Anwachsen der psychiatrisch-psychotherapeutischen Fälle andererseits das Pflegetagevolumen der Seelischen und Verhaltensstörungen mittlerweile das Pflegetagevolumen etwa der Herz-Kreislauf-Erkrankungen übersteigt. Gleichzeitig wird in der Krankenhausversorgung wegen der vorrangigen Stellung der ärztlichmedizinischen Leistungen als Erlösträger im DRG-System die Personalkompetente „Pflege“ stetig abgebaut. Da Morbidität und Epidemiologie aber genau ungekehrt einen Ausbau der Personalkompetente „Pflege“ erfordern, wurden zwar Bettenkapazitäten der Akutversorgung abgebaut, gleichzeitig expandieren aber die Plätze in der Pflegeversorgung überproportional.
Insgesamt verringert sich im Zuge der Krankenhausreform die Sozialfunktion der Krankenhausversorgung erkennbar. Diese bestand und besteht nur noch teilweise in einer im Vergleich zu den anderen Versorgungssektoren, insbesondere der Facharztversorgung überproportionalen Erfassung der einfacheren Sozialschichten sowie der Bereitstellung von Zuwendung, Pflege und Beherbergung. Die Umschichtung zwischen Akut-und Rehaversorgung, in der Trägerschaft, in den Unternehmensformen, in den Fächerstrukturen und in den Produktkonzeptionen zeigen eine ausgeprägte Kommerzialisierung in der Krankenhausversorgung, die von der Politik und der Kassenseite regelrecht erzwungen worden ist. Diese von Politik und Kassen durchgesetzten Reformen haben die Erreichung der vorgeblichen Ziele erhöhter Bedarfsgerechtigkeit, Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit eher unmöglich als möglich gemacht.
2.4 Spaltung der Gesundheitsversorgung in Gesundheitswirtschaft und Gesundheitswesen
In den späten 1970er aber vor allem ab den 1980er Jahren war zwar „Kostendämpfung“, d.h. eine relative Senkung der Krankenkassenbeiträge d.h. der Neben-Lohnkosten durch Sozialleistungsreduzierung das gesundheits- und vor allem wirtschaftpolitische Etappenziel, mit dem die Unternehmensgewinne gestärkt werden sollten. Am grundsätzlichen Finanzierungssystem und an der grundsätzlichen Gliederung der Gesundheitsversorgung änderte sich damals jedoch noch nichts. Insbesondere basierte die Finanzierung einer sozial und regional möglichst gleichmäßigen Gesundheitsversorgung durch Arztpraxen, Apotheken und Krankenhäuser auf den Beitragszahlungen, d.h. Neben-Lohnzahlungen für die sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmer innerhalb der Bemessungsgrenzen. In diesen Jahren war der Hinweis darauf, dass den Neben-Lohnzahlungen für die Krankenkassenbeiträge, d.h. den „Kosten“ der Unternehmen auch Arbeitsplätze, Einkommen und Abgaben der Gesundheitsunternehmen, also „Nutzen“ gegenüberstehen ein wichtiges Argument für eine sachgerechtere Gesundheitsdiskussion. Die Bezeichnung „Gesundheitswirtschaft“ statt „Gesundheitswesen“ wurde damals zur Lockerung des Kostendogmas forciert.
Mittlerweile hat sich die Situation weitgehend geändert: Ressortmäßig ist nun das Bundeswirtschaftsministerium für die „Gesundheitswirtschaft“ als Wachstumsbranche mit ca. 250 Mrd. EUR Umsatz und ca. 4,5 Millionen Erwerbstätigen als reale und potentielle Steuerquelle zuständig. Für die Aufbringung der Finanzmittel für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung vorrangig durch Beitragszahlungen der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, d.h. aus den Neben-Löhnen ist weiter das Bundesgesundheitsministerium zuständig. Aus diesen Neben-Löhnen werden die etwa 160-170 Mrd. EUR Leistungen des vom individuellen Einkommen unabhängigen „Gesundheitswesens“ finanziert. Durch die Variation dieser Leistungen und ihrer Preise wird letztlich die Höhe der Neben-Löhne beeinflusst.
Die unterschiedlichen Ziele der „Gesundheitswirtschaft“: Gewinnerzielung und Steuerabschöpfung bzw. des „Gesundheitswesens“: Fixierung der Neben-Löhne und Einsparung von Steuerzuschüssen an die Gesundheitsversorgung bewirken andauernde Zielkonflikte.
2.4.1 Verstärkung der Regionaldisparitäten durch den Gesundheitsfonds
Die Aufgabenstellung der „Gesundheitswirtschaft“ als Wachstums-und Gewinnerzielungsbereich bzw. als Steuerquelle einerseits und das Anliegen, die Neben-Löhne der Gesamtwirtschaft in Gestalt der Krankenkassenbeiträge für das „Gesundheitswesen“ andererseits flach zu halten führen zu anhaltenden Zielkonflikten und immer neuen Reformansätzen.
Auch der zur Neuordnung von Beitrags-und Steuerfinanzierung, zur Neuordnung der Krankenkassenlandschaft, zur Wirkungsverbesserung des sogenannten „Solidarausgleichs“ und des sogenannten „Wettbewerbs“ in der Krankenversicherung etablierte zentrale Gesundheitsfonds verstärkt diese Konfliktlagen. Er schafft Konfliktlagen zwischen der undifferenzierten Abschöpfung aller Regionen bzw. sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisse in diesen Regionen mit einem Einheitsbeitragssatz und dem stark differenzierten Rückfluß dieser Mittel vor allem in solche Regionen, die hohe Ausstattungsdichten mit Berufen und Einrichtungen der „Gesundheitswirtschaft“, d.h. hohe Leistungsvolumina des „Gesundheitswesens“ aufweisen.
2.4.2 Verstärkte Abhängigkeit der Gesundheitsversorgung von den Renteneinkommen
Durch das Zusammentreffen einer deutlichen Zunahme der Älteren an der Bevölkerung und insbesondere an den Behandlungsfällen der Gesundheitsversorgung einerseits und einer anhaltenden Tendenz zur Ausgliederung von Leistungen des Gesundheitswesens in den Privatverbrauch, d.h. in die Gesundheitswirtschaft bzw. auch zum weiteren Ausbau von Selbstbehalten und Zuzahlungen zu Leistungen des Gesundheitswesens werden die Alterseinkommen in Zukunft zu einer zentralen Voraussetzung für die Gesundheitsversorgung. Dies gilt auch für die Rolle der Arbeitseinkommen für die Krankenkassen-Beitragszahlungen auf Renten.
Nachdem vor allem in den neuen Bundesländern mit einer drastischen Reduzierung der Renteneinkommen schon für die nächsten Jahre gerechnet wird, stellt sich dort die Frage nach der Rolle der Renteneinkommen für die Gesundheitsversorgung besonders dringlich.
3. „Leitbilder“ für die Gesundheitsversorgung in den Ländlichen Räumen
Insgesamt kann von drei Grundtypen „Ländlicher Räume“ in Deutschland ausgegangen werden: Erstens von einem eher unauffälligen Typus, der ökonomisch und demographisch vergleichsweise stabil ist und in weiten Teilen Niedersachsens, aber auch Nordrhein-Westfalens und auch Baden-Württembergs und Bayerns anzutreffen ist. Dort kann auch von einem Vorherrschen vollständiger Ehefamilien ausgegangen werden. Das bisherige Konzept einer solidarischen, bedarfsgerechten, leistungsfähigen und wirtschaftlichen Gesundheitsversorgung hat dort stabile Voraussetzungen auch hinsichtlich der Ältereneinkommen.
Demgegenüber gibt es vor allem in den neuen Bundesländern ökonomisch, demografisch und sozial erodierende Ländliche Räume in denen nur noch Reste von Ehefamilien, Vereinzelte etc. verblieben sind und deren Gesundheitsversorgung auf ein Minimalniveau absinken wird. Insbesondere wird das Absinken der Alterseinkommen die dortige Lage weiter dramatisieren.
Zuletzt gibt es privilegierte, prosperierende Ländliche Räume vor allem am Alpenrand und an der Ostsee, die durch eine Hybridökonomie von Finanzwirtschaft, Hightech-und Prestigeproduktion und Wellnesswirtschaft gekennzeichnet sind. Dort werden die Angebote an kommerzieller Gesundheitswirtschaft ihre stabile Nachfrage finden.
Entwicklungskonzepte sind vor allem nötig für die erodierenden Ländlichen Räume und für die prosperierenden Ländlichen Räume.
3.1 Stabilisierung und Innovation für die Gesundheitsversorgung in erodierenden Ländlichen Räumen
Ähnlich wie schon einmal in der Regionaldiskussion der 1970er und 1980er Jahre, die damals die „endogenen Entwicklungspotenziale“ schwacher Regionen thematisierte steht für die erodierenden Ländlichen Räume als wichtige Frage im Vordergrund, welche bislang dethematisierten und nicht-realisierten aber notwendigen Innovationen in der Gesundheitsversorgung auf Grund der geringeren Konkurrenz durch etablierte Strukturen dort als Wachstumssignale realisiert werden könnten.
Dies setzt einen systematischen Suchprozess etwa entlang der typischen biografischen Krisen, im Bereich der unterversorgten Bevölkerungsgruppen wie Männer, Kinder und Migranten, im Bereich der „Pfadabweichungen“ der Versogungssektoren, der Gegenläufigkeiten von Gesundheitswirtschaft und Gesundheitswesen, der wachsenden Regionaldisparitäten, der Alterseinkommensentwicklung etc. voraus.
Dabei sollte das Prinzip in einer Kombination von Innovationen und Standards, in einer Sicherung der Standardversorgung durch die standortliche -unternehmerische Kombination mit bundes- oder europaweit benötigten Innovationen bestehen. Ein Beispiel ist das vollständige Fehlen von männerspezifischen Gesundheitsangeboten in den neuen Bundesländern, das sich zusätzlich auf bestimmte Berufsgruppen wie bspw. die Fernfahrer auf den Ost-West-Autobahnen konzentriert. Während in der Autonomen Provinz Bozen-Südtirol am Brenner und auch in Baden-Württemberg am Übergang Basel-Rheinfelden Zentren bzw. Standorte für Kraftfahrergesundheit konzipiert werden, fehlen derartige Projekte etwa in Mecklenburg-Vorpommern vollständig.
Neben der standortlichen und unternehmerischen Kombination von Innovationen mit Standardversorgung bedarf es auch einer Neukonzipierung von Daseinsvorsorgefunktionen und darin der Gesundheitsversorgung. Beispielsweise liegt es wegen der zunehmend altersbedingten Schließung von Kinderarztpraxen nahe, in Zukunft in Kindergärten oder Kinderbetreuungsstätten auch Gesundheitsversorgung vorzuhalten. Kinderbetreuerinnen oder Kinderbetreuer müssten pädiatrisch nachqualifiziert und telemedizinisch unterstützt werden. In ähnlicher Weise könnten weitere Daseinsvorsorgefunktionen wie Schulunterricht, Berufsvorbereitung, Haushaltshilfe, Altenbetreuung etc. auf ihre Kombinationsfähigkeit mit Aufgaben der Gesundheitsversorgung überprüft und funktionalisiert werden.
Eine solche funktionsübergreifende Einbindung von Gesundheitsversorgung in andere Daseinsvorsorgebereiche würde auch helfen das Verhältnis von Sozialwirtschaft und Gesundheitswirtschaft neu zu ordnen. Die noch bestehende Hegemonie der ärztlich-medizinisch bestimmten Gesundheitswirtschaft gegenüber der therapeutischpädagogisch-pflegenden Sozialwirtschaft steht im Widerspruch zur tatsächlichen Epidemiologie und Morbidität, die zunehmend durch Seelische Störungen, Chronische Erkrankungen, Behinderungen und Pflegebedürftigkeit geprägt ist.
3.2 Produktentwicklung in prosperierenden Ländlichen Räumen
Der in den prosperierenden und privilegierten Ländlichen Räumen schon jetzt erhebliche Konkurrenzdruck zwischen den ärztlich-medizinisch ausgerichteten Anbietern der Gesundheitswirtschaft beschleunigt die Entwicklung alternativmedizinischer, nichtärztlich-therapeutischer und sonstiger neuartiger gesundheitswirtschaftlicher Angebote. Die voranschreitende Kommerzialisierung der Gesundheitsversorgung in den prosperierenden und privilegierten Ländlichen Räumen kann zur Entwicklung von „Produkten“ einer sozialmedizinisch fundierten Lebenslagen-Medizin genutzt werden, die später auch für erodierende Ländliche Räume adaptiert werden können.
Ein schon erprobtes und ausgearbeitetes Konzept sind die „Zentren für Männergesundheit“ die in verschiedenen Entwicklungsstufen vor allem in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen sowie in Südwestdeutschland vorbereitet oder eingerichtet sind.
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